Wie mir die Nationalsozialisten die Kindheit raubten oder Der seidene Faden des richtigen Namens
Von Friedrich (Danny) Hildebrand, niedergeschrieben im Jahr 2016
Als mein Lehrer, Herr Fissan, mich 1942 in Frankfurt/Main an meinem 1. Schultag ziemlich barsch fragte „wie ist deine Konfession – deine Glaubensrichtung“ konnte ich ihm die Frage als Sechsjähriger natürlich nicht beantworten und stellte sie, wieder zu Hause angekommen, meiner Mutter. „Sag ihm, du seist gottgläubig“ waren ihre knappen Worte, was auch immer sie damit auszudrücken versuchte. Da mein Lehrer anderntags jedoch nicht mehr nachfragte, behielt ich die Antwort für mich. Erst viele Jahre später begriff ich langsam was er wohl gemeint haben könnte, denn meine Mutter hätte, bereits verstehend, einfach und direkt auch sagen können „sag ihm, du seist kein Jude“!
Ich konnte diese seltsame und für mich irgendwie bedrückende Frage meines allerersten Lehrers zeitlebens nicht vergessen, doch als ich später alte Fotos aus jener Zeit betrachtete, erkannte ich plötzlich, dass ich mit meinen rabenschwarzen Haaren recht exotisch aussah und begriff dann allerdings auch, warum er die Frage nach meiner Konfession ein zweites Mal nicht mehr stellen musste: wahrscheinlich hat er, als er durch die Schulbänke ging und mir überraschend besagte Frage stellte (als einzigem übrigens), meinen Namen noch nicht gekannt – mich vermutlich nur nach meinem äußeren Erscheinungsbild „einsortiert“. In den folgenden Stunden oder vielleicht schon kurz danach entdeckte er dann meinen Familiennamen und die Sache war für ihn erledigt. Einer der Hildebrand heißt kann kein Jude sein, denn einen urdeutscheren Namen konnte es wohl kaum noch geben! Und nebenbei gesagt, was er natürlich nicht wissen konnte war, dass meine Großmutter waschechte Norwegerin war – germanischer ging es also gar nicht, und der Stammbaum der Hildebrands geht lückenlos bis 1612 zurück!
Wenn ich all die Filme, die ich im Laufe des Lebens über die Nazizeit (welche ich ja in ihren schlimmsten Phasen von 1936 bis 1945 selbst miterleben musste) in Betracht ziehe und dazu noch alles Gelesene über diese Schreckenszeit hinzufüge, kommt mir immer wieder der Gedanke und die Erkenntnis, was hast du doch für ein Glück gehabt! Hätte ich Goldberg, Abrahamsohn oder Rosengarten geheißen, wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben. Ich aber war evangelisch, hieß Hildebrand und ein sogenannter Ariernachweis hätte kein Problem dargestellt. Und so bin ich also davongekommen. Davongekommen von Eltern- und Geschwistertrennung, Hunger, Durst, Folter, menschlichen Versuchen, unendlichem Leid und schließlich qualvollem Tod. Ein hauchdünner ethnischer Faden meiner Herkunft war hier lebensentscheidend!
Und wenn ich heute diese tumben Nazis brüllen höre, sehe ich im Geiste sofort dieselben Charaktere, die seinerzeit so viel Unheil über die Welt gebracht haben und ganz sicher ohne Skrupel bereit wären, das alles in gleicher Weise zu wiederholen…
Ich bin durch die rigorose Handlungsweise dieser Verbrecher in meinem „kleinen Leben“ fünf Mal evakuiert bzw. vertrieben worden, habe mit meiner Mutter und 2 Geschwistern zitternd vor Angst im Keller unseres Frankfurter Hauses der schießenden Flak und dem Heulen der fallenden Bomben zuhören müssen, immer damit rechnend, die nächste könnte auch uns treffen. Nach der Entwarnung durch den erlösenden Dauerton dieser bis heute für mich gänsehautmachenden Sirenen, ging meine Mutter mit uns Kindern jeweils an ein oberes Fenster des Hauses und zeigte uns das brennende Frankfurt – den Geruch des muffigen Luftschutzkellers mit seinem Flucht-Durchbruch zum Nachbarhaus noch immer in der Nase. Und als wir die Stadt nach weiteren Angriffen schließlich flüchtend verließen, war unser Haus bereits nur eine Woche später dem Erdboden gleichgemacht. Glück gehabt!
Glück gehabt? Es ging in den Dillkreis aufs Land. Ein Jahr später weiter nach Jena, wo meine Eltern sich scheiden ließen (ich dadurch auch noch meine leibliche Mutter verlor), dann ging es von dort aus mit einer neuen „Mutter“ (zeitlebens pflichtbewusst aber lieblos mir gegenüber) in ein Dorf am Harz, bis schließlich mit dem Einzug der Amerikaner das erlösende Ende des Krieges kam. Aber auch von dort mussten wir wieder umziehen. Wir übersiedelten nach Hamburg, wo ich noch ein 9. und letztes Schuljahr abzuleisten hatte. Wieder verlor ich Freunde und Klassenkameraden, und nach bewährtem Muster musste ich mich, wie schon 4 X zuvor, im wahrsten Sinne des Wortes erneut durchboxen und aufs Neue beweisen. Am Algebra-Unterricht brauchte oder durfte ich nicht mehr teilnehmen, da wir ein solches Fach in der vorangegangenen Dorfschule zu der Zeit noch nicht hatten. Dass ich die Schule trotz allem mit einem guten Notenschnitt beenden konnte, grenzt an ein Wunder.
Mein Vater war während der 6 Kriegsjahre (1939 bis 1945) nicht präsent, mit Ausnahme von wenigen kurzen Heimaturlauben. Nach dem Krieg konnte er uns mit seiner Begabung als Kunstmaler und Grafiker (ehem. Student der Dresdener Kunstakademie) auf dem Lande natürlich nicht ernähren (Bilder gegen Schinken gingen nur selten), und so verließ er uns bald wieder, um in Koblenz einer Arbeit als Redakteur bei einer französischen Militärzeitung nachzugehen. So hatte ich in meiner wichtigsten Entwicklungszeit für gut 13 Jahre keinen wirklichen Vater. Als er schließlich wieder zu uns stieß, wurde ich nicht mehr warm mit ihm. Ich fühlte mich mittlerweile „erwachsen“ – war bereits im 2. Lehrjahr des KFZ-Mechanikerhandwerks. Durch das rückblickend mehrfache Umschulen, die lieblosen Familienverhältnisse (kein Vater, keine zur Hilfe fähige Stiefmutter) war ich nicht in der Lage 1946 die, nach dem 4. Schuljahr, anstehende Aufnahmeprüfung für die sogenannte Oberschule in Seesen zu bestehen – war einfach „zu doof“ dazu.
Wie eine Kinderseele mit all dem Vorangegangenem umgeht, musste ich während meines ganzen späteren Lebens bitter erfahren: ich war häufig jähzornig und mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zudem sehr empfindlich, wobei sich Letzteres bis heute erhalten hat. Der Verdacht auf Minderwertigkeitskomplexe konnte nie wirklich ausgeräumt werden, denn man(n) war arm, hatte nichts, war ohne echte Heimat, ohne echte Familie und am Ende Autoschlosserlehrling. Durch all das, so vermute ich jedenfalls im Nachhinein, entwickelte sich im Laufe des Lebens so eine Art Profilneurose, die ich mehr und mehr zu bedienen wusste.
Ich werde häufig gefragt, warum hast Du es über viele Jahre hinweg riskiert mit so ausgefallenen Dingen wie Wildwasserfahrten auf weit abgelegen Flüssen in Kanada und Alaska zu beschäftigen, als Seemann auf den Weltmeeren unterwegs zu sein, 20 Jahre Sportfliegerei mit zwischenzeitlich 4 überlebten Notlandungen (immer technische Probleme) betrieben zu haben und Dich für einige Zeit sogar am Bergsteigen erfreut?
Meine Antwort:
dahinter steckt vermutlich die Besonnenheit meiner Eltern, für sich und uns Kinder rechtzeitig Wege gefunden zu haben, dem direkten Kriegsgeschehen zwischen 1939 und 1945 ohne körperliche Schäden auszuweichen. Ich übernahm das Verhalten als ältestes von 5 Kindern und habe fortsetzend die möglicherweise sogar krankhafte Sucht des Bezwingens all jener Gefahren absichtlich gesucht, es also zu schaffen, durch Erfahrung, Wissen und Besonnenheit dem Tod immer wieder ein Schnippchen zu schlagen.
Reinhard Messner hat einmal dazu gesagt: „wir tun etwas, was kein vernünftiger Mensch tun würde. Wir gehen dorthin, und zwar freiwillig und bewusst, wo wir umkommen könnten, um nicht umzukommen. Die Kunst ist das Nichtumkommen, und das Nichtumkommen ist nur eine Kunst, wenn man umkommen könnte. Wenn ich apriori das ausschließe, weil ich das Ganze so organisiere, dass das Umkommen nicht möglich ist, dann ist es was anderes.“
Im Großen und Ganzen aber sollte ich trotzdem nicht klagen. Klagen aber möchte ich über die aktuellen Nazischreihälse und auch über unsere europäischen Politiker. Letztere gehen mir z. Zt. ein wenig zu lax mit dem so eisern erworbenen siebzigjährigen Frieden um, und ich kann für meine Kinder, Enkelkinder und Europa nur hoffen, dass es nie wieder zu solch blutigen Auseinandersetzungen kommt, wie seinerzeit durch Nazideutschland verursacht. Vor allen Dingen hoffe ich, dass die Braunen nicht erneut die Oberhand gewinnen, wie es sich gerade so schleichend abzuzeichnen scheint. Die Nazis schließlich waren es ja, die mir mein kleines, kindliches Frankfurter Gartenparadies mit Sandkiste, Schaukel, grünem Rasen, eine unbeschwerte Kindheit und später die heile Welt einer geordneten Familie genommen haben.
Und so sollte der unten anzuklickende und ganz neu zusammengeschnittene Dokumentarfilm damaliger Kriegsberichterstatter mit seinen entsetzlichen Szenen aus befreiten Konzentrationslagern, denen ich nur durch einen ethnischen Zufall entkommen bin, Pflichtteil eines jeden Schulprogramms werden. Es soll niemand mit dem Satz kommen dürfen: „können wir nicht endlich mal einen Schlussstrich ziehen!“
Merke: es gibt keine Schlussstriche in der Geschichte!
Night will fall – Dokumentarfilm
(Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen)